Wednesday, February 19, 2003

BOLIVIEN

Indymedia: PHOTOS

2. Chronik aus Bolivien
Heinz Dieterich, 18.02.2003 11:48
La Paz, 13. Februar

Um ungefähr 10:30 früh demonstrierten 100000 BolivianerInnen aus dem
ganzen Land auf der Plaza de San Francisco in der Hauptstadt. Sie hatten die Brandrede von Evo Morales, dem Anführer des Movimiento al Socialismo
(MAS) gehört, der den Rücktritt des Präsidenten und seines Vize und den
Wechsel des neoliberalen Regimes forderte. Danach brachen sie zum Prado
auf. Lange Reihen von Lehrerinnen, Studenten, Arbeiterinnen, Campesinos
und Indígenas schrieen: "El pueblo unido, jamás será vencido". Sie zogen
an den drohenden Panzern der über Nacht in die Hauptstadt beorderten
Truppenkontigenten vorbei. Die Armee hatte das Präsidentenpalais
hermetisch abgeriegelt, auch mit Panzern, deren schussbereite Kanonen
auf die Demo zielten. Scharfschützen auf den Dächern der Zentralbank und
der Bank Cristal schossen auf die Ambulanzen.

Sie zogen an den rauchenden Überresten des in der Nacht zuvor
abgefackelten Planungsministeriums vorbei. Der schwarze Rauch mischte
sich mit jenem eines ausgebrannten Panzerwagens. Zwei Blöcke weiter
befindet sich die schöne Fassade der Vizepräsidentschaft, eines Baus im
Stil Art Nouveau, der dem flammenden Volkszorn zum Opfer gefallen war.
Daneben befindet sich die "Christliche Gemeinschaft des Heiligen
Geistes", eine der vielen Waffen des imperialistischen Obskurantismus,
die verhindern sollen, dass das Volk Gerechtigkeit übt. "Jesus Christus
ist der Herr", proklamiert ohnmächtig eine riesige Inschrift. So
ohnmächtig wie die Botschaft des Heiligen Vaters, der einmal mehr "tief
besorgt" über die Ereignisse in Lateinamerika ist. So ohnmächtig wie die
Yuppies des TV, die den Schaden an Privateigentum und den "Vandalismus
der Unangepassten" lamentieren. So ohnmächtig wie die grosse
zertrümmerte Glasfassade von Burger King, diesem andern Ikon des Imperiums.

Gegenüber steht die Bank Unión. "Ihr Geldautomat schläft nie", verkündet
ihre Werbung. Jetzt ruht er in Frieden. So wie viele andere Automaten.
"Rip", hatten die DemonstrantInnen in untadeligem Volkslatein gesagt.
Das Geld, das sie enthielten, befindet sich im Sack der aufgebrachten
"Meute", welche, darf man annehmen, dieses Medium besser gebrauchen wird
als die Finanzplünderer der Patria Grande.

Die ersten Menschen fallen unter den Kugeln einer Armee in der Hand von
Mörderoffizieren. Ein Minengewekschaftler informiert über mehrere Tote
in La Paz und (der benachbarten Armutsstadt) El Alto. Dort ist ein
veritabler Krieg im Gang und der Werkschutz der Coca Cola fleht die
Armee an, das Unternehmen zu schützen, dessen Abfallprodukt mit dem
deliziösen, einheimischen Coca-Mate nicht konkurrieren kann, weshalb der
Yankeestaat dieses Pflanzenwunder der andinen Kultur zerstören muss.

Mehrere Tote schon und 17 neue Verletzte im Klinikenspital, das zu
Blutspenden aufruft. Insgesamt mindestens 139 meist Schwerverletzte.
Wenn die Menge zu laufen beginnt, hat das zwei Gründe. Entweder schiesst
die Armee oder sie tragen eine Verletzte oder einen Toten davon. Sie
suchen die Polizei der Avenida Mariscal Santa Cruz, deren Patrouillen in
Ambulanzen umimprovisiert werden. Die Polizei, traditionelle
Unterdrückerin des Volkes, ist für heute seine Mitarbeiterin, gegen
Armee und Regierung. "Heute werdet ihr uns nicht mit Gas eindecken",
schreit ein Demonstrant zu den Polizisten, "wir sind schon Brüder". Die
Bullen lachen zur Antwort.

Die Organisation Amerikanischer Staaten, das Kolonialministerium der
USA, wie der Che sagte, schickt eine Botschaft zur Unterstützung "der
Demokratie". Aber niemand achtet auf den Wisch. Es braucht mehr als den
Papst, den Bischof von La Paz und die BerufslügnerInnen vom Fernsehen,
um die Haut des Lakaienpräsidenten "Goni" zu retten. "Der
Scheissyankeegringo soll nach Washington abhauen", schreit ein wütiger
Offizier der Polizei von Santa Cruz im Fernsehen zu diesem erbärmlichen
Subjekt und erklärt, dass die 700 Polizisten von Santa Cruz das
Friedensabkommen von gestern Nacht zwischen Armee, Polizei und Regierung
nicht anerkennen. Um 16h würden sie mit der Bevölkerung zusammen in
Santa Cruz demonstrieren. In dieser Departementshauptstadt gibt es
Strassenblockaden und beginnende Plünderungen, ebenso wie in Cochabamba,
wo die Cocaleros des Evo Morales an den Kämpfen teil nehmen und wo die
Polizei, wie in Santa Cruz, das Abkommen von La Paz nicht akzeptiert.

Im alten Minenzentrum Orurogreifen die Unruhen um sich. Angriffsziele
sind die Sitze der neoliberalen Parteien MIR und MNR. In la Paz kommt es
unterdessen zu weiteren "Vandalenakten" gegen das Justizministerium, die
Bank Sol und eine Dependenz des Obersten Gerichts, wo die Jungen Steine
rein, und, wenn sie hinein kommen, die Ausstattung raus schmeissen. Die
Medienbehauptung, wonach es sich bei den "gewalttätigen Chaoten" um
"Linksaktivisten" handle, strotzt von Dummheit. Es ist, ähnlich wie in
Argentinien, eine Volksrebellion, wo die Kids der Unterklassen
vorherrschen. In la Paz sind die stärksten Kräfte des Aufstandes die
Gewerkschaften des Dachverbandes COB und das MAS von Evo Morales, aber
nicht "Linksaktivisten".

An diesem zweiten Tag ist das Klima sonderbar geworden. Der Volkszorn
steigt und in einigen Armutsquartieren stehen die ersten Barrikaden. Die
Spaltung zwischen Polizei und Armee hält an. Eine vorrevolutionäre
Konjunktur tut sich auf, welche auf eine Avantgarde wartet, die fähig
wäre, das Volk zum Sieg zu führen. Die, wie in Argentinien und Ecuador,
noch nicht existiert. Das ewige Problem der subjektiven Komponente der
lateinamerikanischen Revolution setzt sich fort. Aber so sind die
Transformationsprozesse. Sie laufen mit den verfügbaren Kräften. Unterm
Strich macht die lateinamerikanische Revolution Fortschritte und dieser
Kampf ist Teil ihrer Reifung. Und Goni wird fallen, wie vor ihm Yamil
Mahuad, Carlos Andrés Pérez und Fernando de la Rúa.

No comments: