BOLIVIEN
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2. Chronik aus Bolivien
Heinz Dieterich, 18.02.2003 11:48
La Paz, 13. Februar
Um ungefähr 10:30 früh demonstrierten 100000 BolivianerInnen aus dem 
ganzen Land auf der Plaza de San Francisco in der Hauptstadt. Sie hatten die Brandrede von Evo Morales, dem Anführer des Movimiento al Socialismo 
(MAS) gehört, der den Rücktritt des Präsidenten und seines Vize und den 
Wechsel des neoliberalen Regimes forderte. Danach brachen sie zum Prado 
auf. Lange Reihen von Lehrerinnen, Studenten, Arbeiterinnen, Campesinos 
und Indígenas schrieen: "El pueblo unido, jamás será vencido". Sie zogen 
an den drohenden Panzern der über Nacht in die Hauptstadt beorderten 
Truppenkontigenten vorbei. Die Armee hatte das Präsidentenpalais 
hermetisch abgeriegelt, auch mit Panzern, deren schussbereite Kanonen 
auf die Demo zielten. Scharfschützen auf den Dächern der Zentralbank und 
der Bank Cristal schossen auf die Ambulanzen. 
Sie zogen an den rauchenden Überresten des in der Nacht zuvor 
abgefackelten Planungsministeriums vorbei. Der schwarze Rauch mischte 
sich mit jenem eines ausgebrannten Panzerwagens. Zwei Blöcke weiter 
befindet sich die schöne Fassade der Vizepräsidentschaft, eines Baus im 
Stil Art Nouveau, der dem flammenden Volkszorn zum Opfer gefallen war. 
Daneben befindet sich die "Christliche Gemeinschaft des Heiligen 
Geistes", eine der vielen Waffen des imperialistischen Obskurantismus, 
die verhindern sollen, dass das Volk Gerechtigkeit übt. "Jesus Christus 
ist der Herr", proklamiert ohnmächtig eine riesige Inschrift. So 
ohnmächtig wie die Botschaft des Heiligen Vaters, der einmal mehr "tief 
besorgt" über die Ereignisse in Lateinamerika ist. So ohnmächtig wie die 
Yuppies des TV, die den Schaden an Privateigentum und den "Vandalismus 
der Unangepassten" lamentieren. So ohnmächtig wie die grosse 
zertrümmerte Glasfassade von Burger King, diesem andern Ikon des Imperiums. 
Gegenüber steht die Bank Unión. "Ihr Geldautomat schläft nie", verkündet 
ihre Werbung. Jetzt ruht er in Frieden. So wie viele andere Automaten. 
"Rip", hatten die DemonstrantInnen in untadeligem Volkslatein gesagt. 
Das Geld, das sie enthielten, befindet sich im Sack der aufgebrachten 
"Meute", welche, darf man annehmen, dieses Medium besser gebrauchen wird 
als die Finanzplünderer der Patria Grande. 
Die ersten Menschen fallen unter den Kugeln einer Armee in der Hand von 
Mörderoffizieren. Ein Minengewekschaftler informiert über mehrere Tote 
in La Paz und (der benachbarten Armutsstadt) El Alto. Dort ist ein 
veritabler Krieg im Gang und der Werkschutz der Coca Cola fleht die 
Armee an, das Unternehmen zu schützen, dessen Abfallprodukt mit dem 
deliziösen, einheimischen Coca-Mate nicht konkurrieren kann, weshalb der 
Yankeestaat dieses Pflanzenwunder der andinen Kultur zerstören muss. 
Mehrere Tote schon und 17 neue Verletzte im Klinikenspital, das zu 
Blutspenden aufruft. Insgesamt mindestens 139 meist Schwerverletzte. 
Wenn die Menge zu laufen beginnt, hat das zwei Gründe. Entweder schiesst 
die Armee oder sie tragen eine Verletzte oder einen Toten davon. Sie 
suchen die Polizei der Avenida Mariscal Santa Cruz, deren Patrouillen in 
Ambulanzen umimprovisiert werden. Die Polizei, traditionelle 
Unterdrückerin des Volkes, ist für heute seine Mitarbeiterin, gegen 
Armee und Regierung. "Heute werdet ihr uns nicht mit Gas eindecken", 
schreit ein Demonstrant zu den Polizisten, "wir sind schon Brüder". Die 
Bullen lachen zur Antwort. 
Die Organisation Amerikanischer Staaten, das Kolonialministerium der 
USA, wie der Che sagte, schickt eine Botschaft zur Unterstützung "der 
Demokratie". Aber niemand achtet auf den Wisch. Es braucht mehr als den 
Papst, den Bischof von La Paz und die BerufslügnerInnen vom Fernsehen, 
um die Haut des Lakaienpräsidenten "Goni" zu retten. "Der 
Scheissyankeegringo soll nach Washington abhauen", schreit ein wütiger 
Offizier der Polizei von Santa Cruz im Fernsehen zu diesem erbärmlichen 
Subjekt und erklärt, dass die 700 Polizisten von Santa Cruz das 
Friedensabkommen von gestern Nacht zwischen Armee, Polizei und Regierung 
nicht anerkennen. Um 16h würden sie mit der Bevölkerung zusammen in 
Santa Cruz demonstrieren. In dieser Departementshauptstadt gibt es 
Strassenblockaden und beginnende Plünderungen, ebenso wie in Cochabamba, 
wo die Cocaleros des Evo Morales an den Kämpfen teil nehmen und wo die 
Polizei, wie in Santa Cruz, das Abkommen von La Paz nicht akzeptiert. 
Im alten Minenzentrum Orurogreifen die Unruhen um sich. Angriffsziele 
sind die Sitze der neoliberalen Parteien MIR und MNR. In la Paz kommt es 
unterdessen zu weiteren "Vandalenakten" gegen das Justizministerium, die 
Bank Sol und eine Dependenz des Obersten Gerichts, wo die Jungen Steine 
rein, und, wenn sie hinein kommen, die Ausstattung raus schmeissen. Die 
Medienbehauptung, wonach es sich bei den "gewalttätigen Chaoten" um 
"Linksaktivisten" handle, strotzt von Dummheit. Es ist, ähnlich wie in 
Argentinien, eine Volksrebellion, wo die Kids der Unterklassen 
vorherrschen. In la Paz sind die stärksten Kräfte des Aufstandes die 
Gewerkschaften des Dachverbandes COB und das MAS von Evo Morales, aber 
nicht "Linksaktivisten". 
An diesem zweiten Tag ist das Klima sonderbar geworden. Der Volkszorn 
steigt und in einigen Armutsquartieren stehen die ersten Barrikaden. Die 
Spaltung zwischen Polizei und Armee hält an. Eine vorrevolutionäre 
Konjunktur tut sich auf, welche auf eine Avantgarde wartet, die fähig 
wäre, das Volk zum Sieg zu führen. Die, wie in Argentinien und Ecuador, 
noch nicht existiert. Das ewige Problem der subjektiven Komponente der 
lateinamerikanischen Revolution setzt sich fort. Aber so sind die 
Transformationsprozesse. Sie laufen mit den verfügbaren Kräften. Unterm 
Strich macht die lateinamerikanische Revolution Fortschritte und dieser 
Kampf ist Teil ihrer Reifung. Und Goni wird fallen, wie vor ihm Yamil 
Mahuad, Carlos Andrés Pérez und Fernando de la Rúa.
Wednesday, February 19, 2003
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