Monday, October 28, 2002

MOSKAU

Spiegel: Putin droht Terroristen mit Massenvernichtungswaffen
Nach dem gewaltsamen Ende der Geiselnahme in Moskau hat Wladimir Putin angekündigt, im Kampf gegen den Terrorismus Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Bundesregierung forderte die EU unterdessen auf, mit dem russischen Präsidenten über seine Tschetschenien-Politik zu sprechen.

Presseschau:

"New York Times", USA: "Die Bereitschaft der tschetschenischen Rebellen, Zivilisten zu ermorden, einschließlich der Berichte, dass sie vor Tagesanbruch am Samstag mit dem Töten von Geiseln begonnen hatten, ließ dem Kreml keine andere Wahl, als die Theaterbesucher zu befreien. Doch die gewählten Methoden schienen einem kruden Handbuch für Sicherheitskräfte aus Sowjetzeiten zu entstammen. (...) Das resultierende Chaos und die Bemühungen um Schönfärberei erinnerten an plumpe sowjetische Versuche, mit Krisen wie dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 fertig zu werden. (...)"
"El Mundo", Madrid: "Wenn bei einem Gaseinsatz 170 Menschen praktisch auf der Stelle ums Leben kommen, muss es sich bei dem verwendeten Mittel um ein Giftgas oder um ein Betäubungsmittel gehandelt haben, das in einer tödlichen Dosis eingesetzt wurde. (...)

Es hätte sicherlich noch schlimmer kommen können, und alle Geiseln hätten sterben können. Aber auch so gibt der schreckliche Ausgang des Geiseldramas Anlass zu der Frage, welches die Prioritäten der russischen Führung waren. Hatten die Verantwortlichen vielleicht die Wirkung des Gases nicht richtig eingeschätzt? War die Rettung des Lebens der Geiseln wirklich ihre Hauptsorge?"

"Il Messaggero", Rom: "Ist es zulässig, dass man im Kampf gegen die Terroristen eine solch hohe Zahl toter Zivilisten verursacht? Zwar ist es wahr, dass die Terroristen damit gedroht hatten, sie seien bereit, alle Geiseln zu töten. Aber es ist auch richtig, dass sie im Laufe der Geiselnahme einige Menschen freigelassen hatten und dass die Verhandlungen vielleicht hätten fortgesetzt werden können.

Auch in Zeiten eines bewaffneten Konflikts müssen die Schäden für Zivilisten im kleinstmöglichen Rahmen gehalten werden, und sie müssen zugleich durch unbedingte Notwendigkeiten gerechtfertigt sein."

"Corriere della Sera", Mailand: "Putin hat die Solidarität nach dem 11. September ausgenutzt, um vom Westen die Nichteinmischung in die Menschenrechtsverletzungen zu erreichen, die von russischen Militärs in der Rebellenregion begangen werden. (...)

Der Westen hat gute Gründe zur Selbstkritik. Ohne eine Destabilisierung Russlands fördern zu wollen, was gegen das westliche Interesse wäre, müssen Europa und Amerika jedoch versuchen, Putin dazu zu bringen, Verhandlungen im Zeichen einer echten und weit reichenden Autonomie Tschetscheniens zu eröffnen."

"Libération", Paris: "Kann man bei 120 oder vielleicht 150 getöteten Geiseln noch von einem Erfolg, oder einem halben Erfolg sprechen? In Paris, Washington oder London könnte man das gewiss nicht, auch wenn Jacques Chirac, George W. Bush und Tony Blair dem russischen Präsidenten rasch ihre Erleichterung und ihre Solidarität ausgedrückt haben, ohne genau über die Dimension des Dramas in dem Theater in Moskau unterrichtet gewesen zu sein. Es ist die Frage, ob Putin diese tödlich belastete 'Rettung' ohne Schaden übersteht. Schließlich sind die Opfer keine sozialen Randgruppen, sondern gehören zu einer städtischen und gebildeten Schicht der Bevölkerung. Man darf darauf hoffen, dass dieses Drama Überlegungen über die Sinnlosigkeit eines Kolonialkrieges in Tschetschenien auslöst, den Putin wahrscheinlich noch verstärken wird."

"Daily Telegraph", London: "Letztlich wird Moskau irgendeinen Weg finden müssen, um mit den tschetschenischen Forderungen nach Selbstbestimmung umzugehen - ein Projekt, das schon unter Boris Jelzin beschlossen, aber später aufgegeben wurde. Putin ist bisher zögerlich gewesen, auch nur mit dem gemäßigten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow zu verhandeln. Und doch gründen sich die besten Hoffnungen für ein sicheres Russland auf die Fähigkeit, Beziehungen zu einem verlässlichen tschetschenischen Regime aufzubauen, das sein eigenes Territorium polizeilich überwachen kann. Leider scheint die Aussicht darauf nun weiter entfernt zu sein als jemals zuvor."

"Der Standard", Wien: "War die hohe Opferzahl in Moskau plus wie sie zu Stande gekommen ist plus wie die Katastrophe verwaltet wurde 'nur' ein allgemeines Versagen der russischen Sicherheitskräfte und Behörden? Oder hat das alles Methode, nämlich die Methode, die auch beim Krieg in Tschetschenien zur Anwendung kommt und die da lautet: Der Staat muss militärischer Sieger bleiben, und auf dem Weg zu diesem Sieg gibt es keine Unverhältnismäßigkeit. Dass dabei auf tschetschenische Zivilisten, die schon durch ihre ethnische Zugehörigkeit gewissermaßen schuldig sind, keine Rücksicht genommen wird, war bekannt - dass diese Rücksichtslosigkeit auch für russische und gar ausländische Zivilisten gilt, ahnen wir spätestens jetzt."

"Berner Zeitung", Schweiz: "Die Hoffnung, dass die schrecklichen Ereignisse die russischen Politiker und Militärs zum Umdenken bewegen werden, ist illusorisch. Der Krieg in Tschetschenien wird vermutlich noch härter und grausamer sein als bisher. Fernab von Moskau sind keine Fernsehkameras installiert, die den schmutzigen Krieg - ob gegen Widerstandskämpfer oder gegen wehrlose Zivilisten - dokumentieren. Jene, die die Geiselnahme planten und durchführten, haben der Sache - dem Kampf für die Unabhängigkeit Tschetscheniens - einen schlechten Dienst erwiesen. Die Grausamkeit im Umgang mit den Geiseln weckt ebenso wenig Verständnis wie die Brutalität der Russen in Tschetschenien. Beide Seiten müssen, und wenn es noch so schwer fällt, nach anderen Wegen zur Lösung des Konflikts suchen."

"Kommersant", Moskau: "Fast alle Geiseln starben, wie die Gesundheitsbehörden zugaben, an dem von den Spezialeinheiten eingesetzten Gas. Doch die Spezialeinheit 'Alfa' hatte dieses Gas nicht in ihren Ausrüstungsbeständen. Man darf keinesfalls ausschließen, dass die getöteten Geiseln Opfer eines Tests im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus wurden."

"Wedomosti", Moskau: "Niemand darf sie (die Spezialeinheiten) für den Einsatz verurteilen. Immerhin wurden Hunderte von Menschen gerettet. Auch die Amerikaner gaben am 11. September den Befehl zum Abschuss der entführten Passagierflugzeuge aus, um mit dem Tod von Dutzenden Passagieren an Bord das Leben von tausenden Menschen auf der Erde zu retten."

"Rzeczpospolita", Warschau: "Die ersten Informationen waren triumphierend. Die Geiseln wurden ohne Verluste befreit. Nun wissen wir schon von fast 120, die beim Einsatz von Gas starben. Von Gas, dessen Gebrauch die russischen Behörden lange dementierten. Wir wissen auch, dass die Information unwahr war, dass die russischen Kräfte angriffen, als die Tschetschenen begannen, Geiseln zu töten. (...) Wir wissen überhaupt nicht, ob sie bereit waren, ihre Drohungen wahr zu machen. In ähnlichen Situationen verhandeln demokratische Mächte, selbst in Peru, so lange wie möglich. Die russischen Machthaber gingen das höchste Risiko ein, ohne vorher andere Möglichkeiten zu prüfen. (...)

In demokratischen Ländern würde diese Situation einen Skandal auslösen. In Russland ist es wahrscheinlicher, dass der Präsident noch mehr als der starke Mann angesehen wird, von dem die Russen träumen."



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